AUTSCH! Dranbleiben mit dem Anker-Effekt
Der AUT hat’s in sich. AUT steht für Adamello Ultratrail. Die Königinnen-Distanz mit 170 Kilometern und 11.500 Höhenmetern (so zumindest die offiziellen Angaben) hat es definitiv in sich. Fügt man noch S, C, H dazu, ergibt das AUTSCH. AUTSCH würde als Abkürzung für diese Rennen, zumindest was den körperlichen Anspruch betrifft, gut passen. Oder wie Peter Kienzl zu mir bei der Siegerehrung meinte: „Wenn man auf die hundert Kilometer hätte wechseln können, hätte ich das gemacht.“ Um den zweiten Teil nach der Life-Base bei km 90 gut zu finden, muss man schon ein Faible für holprige, gepflasterte, steile, besser gesagt sausteile Rampen haben. Denn lange Anstiege dieser Art finden sich auf der zweiten Streckenhälfte des AUT ausreichend, einer steiler als der andere. AUTSCH!
GLÜCK gehabt?
Kurz nach einem landschaftlich sehr schönen Abschnitt folgt ein abschüssiger Downhill, dessen „Schönheit“ ich nachts und im Nebel nur erahnen konnte. Vielleicht war‘s besser so. Als ich dachte, der gefährlichste Teil dieses Streckenabschnitts, läge bereits hinter mir, weisen mich an mehreren Stellen Warnschilder auf die schwarzen Löcher neben dem maximal 50 cm breiten Weg hin. Dabei wollte ich gerade eine Tüte Gummibärchen rauskramen, was nach 40 Stunden ohne Schlaf schon mal zum Stolpern führen kann. Ohne die Hinweise wäre ich dem Irrtum unterlegen, nur weil der Weg flach und gut laufbar ist, bestünde keine Gefahr. Tatsächlich war das Risiko eines tödlichen Absturzes größer als zuvor. Man weiß nicht was man nicht weiß. der Zustand nennt sich unbewusste Inkompetenz. GLÜCK gehabt!
Unbewusste Inkompetenz – du weißt nicht, was du nicht weißt.
Ob es sich um den Streckenabschnitt handelt, auf dem es weder Netz- noch GPS-Empfang gibt und bei dem sich Angehörige keine Sorgen machen sollen, wenn sich das Signal des Trackers eines Läufers für einige Stunden nicht mehr bewegt? Ich konnte es im Downhill nicht testen, da ich keinen Schritt ohne beide Stöcke hätte machen wollen.
Und stehen bleiben, hätte die Läuferinnen und Läufer nach mir blockiert. Außerdem ist es ja ein Rennen und unnötig eine Platzierung abgeben? Falls du dich nun fragst: „Wieso macht man sowas?“ Eine gute Frage. In meinem Vorträgen beantworte ich sie. In diesem Blog der ISPO verrate ich wie du die mentale Stärke für anspruchsvolle Ziele entwickelst, damit dir unterwegs nicht die Luft ausgeht.
Im heutigen Blog geht es, neben der Gefahr der unbewussten Inkompetenz um einen typischen Denkfehler. Und obwohl ich diese wie viele andere Bias nur allzu gut kenne, bin ich ihr auf dem Leim gegangen: Drei Wochen vor dem Rennen war ich noch darauf eingestellt, den Tor des Glaciers zu laufen: Ein XXXL-Ultratrail Rennen über 450 km und 32.000 hm in maximal 190 Stunden nonstop. Seit einigen Jahren sammle ich die nötigen Puzzleteile. Nach einem Muskelabriss am Bein, OP und einem langen zähen Weg zurück, erwarb ich mit dem Zieleinlauf beim Tor des Géants (TOR) in 127 Stunden und 32 Minuten die Qualifikation. Man muss den 330iger, der ebenfalls über 30.000 hm hat, in unter 130 Stunden gelaufen sein um bei diesem Bergabenteuer an den Start gehen zu dürfen.
Der Anker-Effekt – am Berg wie im Business.
Und vielleicht geht es Ihnen/dir jetzt wie mir. Nachdem von 350 und 450 km die Rede war, scheinen 170 km gar nicht mehr so viel.
Dabei hat sich an der Streckenlänge nichts verändert. 170 km sind weiterhin vier Marathons hintereinander, jeder davon mit 3.000 Höhenmeter (bergauf wie bergab) ohne, dass die Zeit zwischendrin gestoppt wird.
Da ich in den letzten 10 Jahren schon ein paar Ultramarathons gelaufen bin, hätte mir das klar sein müssen. Denn bei den allermeisten anspruchsvollen Ultratrail Rennen ist man nach 100, 120 oder maximal 140 Kilometern „schon“ im Ziel. Doch ohne mir dessen bewusst zu sein (unbewusste Inkompetenz), bin ich auf die s.g. „Anchoring Bias“, auf deutsch den Ankereffekt, hereingefallen. Die 450 km waren mein Anker, mein Orientierungswert, der (ohne, dass ich die 450 km am Stück gelaufen bin) die 170 Kilometer des AUT auf einmal wenig erscheinen ließ. Der Grund warum clevere Unternehmer immer einen sehr hohen Preisanker demonstrieren. Die wenigsten kaufen eine Tasche für 1000 Euro. Daneben erscheint die für 300 Euro aber geradezu als geschenkt. Auch sportlich kannst du den Anker-Effekt für dich nutzen. Stell dir vor, du läufst nächste Woche Montag, Mittwoch und Freitag einen Halbmarathon, also etwas über 21 km. Es dauert nicht lange und dir – wie deinem Schweinehund – wird deine Stammstrecke von siebeneinhalb Kilometern auf einmal erstaunlich kurz erscheinen.
DRANBLEIBEN lohnt sich – IMMER!
Zurück zum AUT: Obwohl ich zu spüren bekam, dass 170 Kilometer eben 170 Kilometer sind – besser gesagt knapp 180 km mit über 12.000 hm. Dennoch reichte es am Ende für einen Platz auf dem Podium. Nachdem ich eine Läuferinp an der letzten VP auf Passhöhe überholte und die 10 km bis ins Ziel rannte, als wäre das hier ein Halbmarathon. In dem Glauben, dass ich so neunte, statt zehnte sei und das sowieso nur die ersten sechs Frauen Preise bekommen. Einstellig ist cooler und überhaupt, gilt es schließlich immer sein Bestes zu geben. Im Ziel erfuhr ich, dass bei einer Läuferin vor mir der GPS-Tracker nicht funktionierte. Ich war Zehnte und sollte zur Ehrung der Top 10 um 13 Uhr wieder hier sein.
Apropos sein Bestes geben: Beim Hochkönigman Ultratrail 2017 sagte man mir auf dem letzen Abschnitt, es seien schon einige Frauen vor mir – „so 6 oder 7“. Obwohl ich bergab rannte, als gäbe es kein Morgen mehr, holte ich keine von ihnen ein. Als ich um die Ecke in den Zielkanal bog, rief jemand: „Da, da kommt die dritte Frau. Und schon knallte es, denn links und rechts wurde Rauch hoch geblasen.“ Das nenne ich den DRANBLEIBEN-Effekt. Er bezeichnet das Gegenteil der „Es-lohnt-sich-eh-nicht-Bias“.